Ende Juli 2021 vermittelte beim Vienna International Dance Festival ImPulsTanz Jérôme Bels Lecture Demonstration „Isadora Duncan“ dank Elisabeth Schwartzs Duncan-Kompetenz die erwarteten Einblicke in das Schaffen der amerikanischen Tanzpionierin. Schon vier Wochen später kam es beim Theater-an-der-Wien-Gastspiel des Hamburg Ballett John Neumeier mit dem im Mai 2021 in Hamburg uraufgeführten „Beethoven-Projekt II – Meine Seele ist erschüttert“ zu einer – diesmal überraschenden – Wiederbegegnung mit dem „Mythos Duncan“.
Eingedenk des (Tanz-)Geschichtsbewusstseins John Neumeiers, der bei diesem Gastspiel auf eine vor 55 Jahren begonnene Verbundenheit mit dem auch als Beethoven-Stätte geltenden Theater zurückblicken konnte – Neumeier war 1966 als Tänzer des Stuttgarter Balletts erstmals im Theater an der Wien in Erscheinung getreten –, kann man aber nicht wirklich von Überraschung sprechen, wenn in die in seinem „Beethoven-Projekt II“ aufgeführte Siebente Sinfonie ein choreografisches Duncan-Zitat eingeflossen ist.
Ein Blick auf Neumeiers Œuvre zeigt, dass nicht nur Wazlaw Nijinski, dieser freilich an erster Stelle, sondern auch Isadora Duncan zu den Leitsternen Neumeiers zählt. Unterschwellig etwa in der Lykainion seiner 1972 in Frankfurt am Main entstandenen Version von Maurice Ravels „Daphnis und Chloë“, die durch „archäologische Antike und Duncan-inspirierte Jugendstil-Gegenwart“ des Jahres 1912 geprägt ist (1983 kam diese Produktion auch an das Ballett der Wiener Staatsoper); oder in der Rolle der Mutter in „Tod in Venedig“ (Hamburg 2003, Gastspiel Theater an der Wien 2009), die der Choreograf ursprünglich als eine Art Isadora Duncan sah. Ganz explizit hingegen als Isadora Duncan gezeichnet ist die Figur der Freundin der Duse in seinen 2015 für Hamburg entstandenen „Choreografischen Phantasien über Eleonora Duse“. Und nicht übersehen werden darf, dass es Neumeiers Hamburger „Nijinsky-Gala“ des Jahres 1975 war, für die Frederick Ashton seine von Lynn Seymour ausgeführte Duncan-Hommage „Brahms-Walzer“ (später erweitert zu „Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan“) kreiert hat.
Und nun also Neumeiers Auseinandersetzung mit Ludwig van Beethovens Siebenter Sinfonie, die von 1904 bis 1922 zum Kernrepertoire der Duncan gehörte. Die Initiatorin der Tanzmoderne hat sie in verschiedenen Fassungen getanzt, als Solo (wobei der erste Satz vom Orchester allein dargeboten wurde), ab 1917 auch gemeinsam mit ihren Schülerinnen. Ein beispielloses und zugleich bahnbrechendes Unterfangen! Neumeier zollt der Kühnheit seiner Vorgängerin Tribut, indem er am Beginn und am Ende der Sinfonie Ida Stempelmann in einer für Duncan charakteristischen Art von „running and skipping“ barfuß und mit ausgebreiteten Armen einen die gesamte Bühne umschreibenden Kreis ausführen lässt, der in eine auf beiden Füßen ausgeführte Drehbewegung mündet. Dass Stempelmann vor Beginn der Sinfonie dem Dirigenten die Noten in den Orchestergraben zu reichen hat, lässt an eine durch Ludwig Hevesi mitgeteilte Begebenheit im Carl-Theater im Jänner des Jahres 1904 denken: Duncan hatte nach Beendigung ihres „griechischen Abends“ (Fragmente aus Aischylos᾽„Die Schutzflehenden“ und Euripides᾽ „Die Bakchen“) das Gefühl, dem Wiener Publikum noch etwas schuldig zu sein. Sie trat, so Hevesi, „mit ihren schönen bloßen Beinen hart an den Souffleurkasten“ und fragte: „,Wollen Sie, dass ich soll tanzen die blaue Donau?ʻ –,Ja!ʻ scholl es von allen Rängen. Und Isadora holte die Noten zur blauen Donau und reichte sie dem Kapellmeister hinunter, und sie tanzte die blaue Donau …“.
Siehe auch die Wiener Tanzgeschichte "Die 'Klagenfurter Duncan'" auf tanz.at.