Der zweite Teil der Artikelfolge, die der 400-jährigen Geschichte des Wiener „Haus-, Hof- und Staatsballetts“ gewidmet ist, geht vom Stichjahr 1722 aus. Er nimmt ein Ereignis zum Anlass, das die bereits vorhandene, am Hof agierende – ausschließlich männliche – professionelle Tänzerschaft per Kaiserlichem Dekret um eine „Hofscholarin“ (heute Elevin) erweiterte. Damit waren endgültig die Weichen für ein Wiener Ballettensemble im heutigen Sinn gestellt. Die Tänzerin, Johanna Scio, entstammte – ein Charakteristikum des darstellenden „Personals“ nicht nur dieser Zeit – einer Tänzerfamilie.
1722 – Eine Hoftänzerin betritt die Wiener Tanzbühne
Die überlieferten Dokumente (Obersthofmeisteramtsakte, Hofparteienprotokolle) der vor 300 Jahren erfolgten Anstellung – Andrea Sommer-Mathis hat nicht nur diese den heutigen LeserInnen zugänglich gemacht – lassen erahnen, welch unvorstellbare Mühen die Zeit für ein TänzerInnenleben bereit hatte. Die Eingaben etwa, denen es bedurfte, um ein Engagement am Hof zu erhalten, konnten sich über Jahre hinziehen. Schließlich wurden sie vom Kaiser – Karl VI. – selbst entschieden. Stationen der Bittgesuche waren Hofmusikdirektor und Obersthofmeister. Im konkreten Fall war der Verfasser der „Bittschrift“ Franz Scio, der Vater der jungen Tänzerin, der das Ansuchen in seiner Eigenschaft als Linzer „Landschaftstanzmeister“, das heißt als eine Art Beauftragter für Tanzbelange in Oberösterreich, einreichte. Franz war vielleicht der Sohn des venezianischen (Seil-)Tänzers Sebastiano Scio, der für das Theatergeschehen in Wien insofern von Interesse ist, als er zusammen mit Antonio Ristori 1709/10 für kurze Zeit die Pacht des eben eröffneten Kärntnertortheaters innehatte. (1705 hatte er die Bewilligungen zum Seiltanzen sowie zur Aufführung von Komödien und Opern in Wien erhalten.)
Franz Scio bat also für seine Tochter, das heißt für eine Tänzerin, um eine Anstellung. Damit dachte man reichlich spät daran, das kaiserliche Ensemble um das weibliche Geschlecht zu erweitern, anderswo, etwa in Venedig mit seinen privaten Theatern, war es schon das 17. Jahrhundert über auf der Bühne zu finden gewesen. Johanna (Maria Anna), vermutlich in Linz geboren (Datum unbekannt), habe, so erklärt der Vater, beim Hoftänzer Alexander Philebois dem Älteren, mithin einem französischstämmigen Künstler, studiert. Sie sei bereits seit drei Jahren tanzend am Hof zu sehen gewesen. Der Hofmusikdirektor empfiehlt das Engagement, der Obersthofmeister überlässt die Entscheidung dem Kaiser und meint, dieser habe sich von ihren tänzerischen Vorzügen ja bereits überzeugen können. Johanna Scio wird am 16. November 1722 am Hof angestellt, sie avanciert 1726 zur – ersten – „Wirklichen Kaiserlichen Hoftänzerin“, eine Position, die sie bis zu ihrem Rückzug von der Bühne 1735 innehat. Mit ein Grund für ihr rasch erfolgtes Avancement soll ihre bevorstehende Verehelichung mit Philebois᾽ Sohn Carl gewesen sein, der neben seiner Tätigkeit als Hoftänzer (seit 1718) auch Schüler des bekannten Kostümbildners Antonio Daniele Bertoli war. Als Scholarin in den Ehestand zu treten, wäre unschicklich gewesen; die Heirat erfolgte 1727. Beider Sohn Gregori ist noch am letzten Tag des Jahres seiner Geburt (1728) gestorben, zehn Monate später verstarb auch Carl Philebois.
Eine einmal bei Hof erreichte Position galt als feste Anstellung, kam allerdings beim Tod des Kaisers zum Erliegen, konnte jedoch von seinem Nachfolger bestätigt werden. Da es nur eine relativ geringe Stellenanzahl gab, war man gezwungen, auf eine freie Position zu warten. Die TänzerInnen genossen so manche Privilegien. Während man eine Wohnung nur fallweise zur Verfügung stellte (Johanna Scio und ihrer Familie wurde diese Vergünstigung zuteil), gab es eine Art Kostümfundus, der an die DarstellerInnen verliehen wurde. Da die vereinbarte Rückgabe dieser Kostüme von den TänzerInnen – darunter auch Johanna Scio – sehr oft nicht eingehalten wurde, versuchte man dies durch Inventarisierung und Pönalen zu unterbinden. Grund für das unrechtmäßige Vorgehen der DarstellerInnen mochte auch die äußerst knapp bemessene Besoldung gewesen sein. Diese wurden durch „Verehrungen“ aufgebessert, das heißt, durch Zuwendungen aus der kaiserlichen Privatschatulle oder anderen Gönnern. Dazu kamen Honorare aus privatem Unterricht, eine beliebte Einnahmenquelle, die bis in das 20. Jahrhundert floss.
Die politische und die daraus folgende ästhetische Orientierung des Hofes widerspiegelte sich in der Ausrichtung seines Ballettensembles. Die Nähe zu Italien bedingte die Anstellung italienischer Künstler, Tänzer und Tanzmeister. Das heißt, die tanzenden, choreografierenden und unterrichtenden Vorstände waren – mit ganz wenigen Ausnahmen – das ganze 17. Jahrhundert über Italiener gewesen. Die geänderte politische Orientierung machte sich durch einen immer intensiver werdenden Blick auf französische Tanzkultur bemerkbar. Auf die bereits im ersten Teil der Artikelserie genannten italienischen Hoftanzmeister, Vater und Sohn Santo und Domenico Ventura, folgten – ehe der Franzose Alexander Philebois 1733 mit dieser Position betraut wurde – als letzte Italiener Francesco Torti (seit 1695) sowie (seit 1718) Simon Pietro Levassori della Motta.
Ästhetisch gesehen, war Johanna Scio als nunmehrige „Hofbeamtin“ in der Welt des Wiener Hofes zu Hause. Geht man davon aus, dass sie auch ihren weiteren künstlerischen Umraum wahrnahm, so mochte ihr sehr wohl bewusst gewesen sein, dass ihre Bewegungswelt nur eine von mehreren war. Neben der französischen klassischen Welt, die nunmehr schon einige Jahrzehnte lang konkurrierend gepflegt wurde, war um 1722 eine zweite völlig unterschiedliche Sphäre auszumachen, wobei diese – wie um die Sachlage weiter zu komplizieren – sich ihrerseits in fortschreitender Entwicklung befand. Wie sah nun Johanna Scios künstlerische Tätigkeit aus? Tanzte sie ausschließlich bei Hof und da nur in Zwischenakt- und Schlussballetten von Opern? Trat sie vielleicht schon in selbstständigen Balletten auf? Tanzte sie auch außerhalb großer Feste? Wer war ihr Publikum? Tanzte sie an der Seite Adeliger oder nur mit den am Hof engagierten Tänzern? Welche Räume, welche Gärten wurden bespielt? Und: Wie machte sich der vielzitierte französische Einfluss bemerkbar?
Ineinandergreifende Bewegungswelten
Erst die letzten Jahrzehnte haben sich darum bemüht, den Blick auf das „Habsburger Musiktheater“ und mithin auch auf die nicht nur musizierenden, sondern auch tanzenden barocken „Wiener Kaiser“ (Leopold I., Josef I. und Karl VI.) differenzierter werden zu lassen. Betrachtet durch jene Wissenschaftsdisziplinen, die nunmehr vermehrt in den Fokus kamen, wird das künstlerische Wirken am Hof genauer bewertet und erheblich höher eingestuft, als das bis dahin der Fall war. So sieht Susanne Rode-Breymann etwa in ihrem Buch „Musiktheater eines Kaiserpaars. Wien 1677 bis 1705“ die Wiener Musikkultur als eine „Praxisform“, die „im Dienst von Zeremoniell und Repräsentation stand“, des Weiteren als ein Forum von „Tugenden, (Geschlechter-)Rollen und Politik“. Sie stuft das Musiktheatergeschehen als „höfisches Akteursystem von Bühnenkünstlern verschiedenster Sparten ein: Librettisten, Komponisten, Ballettkomponisten, Bühneningenieure, Tanzmeister“ sowie den Auftrag gebenden Kaiser. Zudem ist von „Schau-Orten“, Kaiserbildern und Medienstrategien die Rede. Und wenn die Autorin resümierend feststellt, Wiener Musiktheater-Kultur hatte Anteil „an der Konstruktion höfischer Bewusstseinsinhalte, höfischer Ordnungsvorstellungen, höfischer Rollen und Hierarchien“, so gilt es, diese Einschätzung weiter in Richtung Ballett zu denken. Die körperliche Basis nämlich, die diese höfischen Bewusstseinsinhalte, die höfischen Ordnungsvorstellungen, die höfischen Rollen und Hierarchien trug, war die kodifizierte Bewegungswelt des Balletts. Seine grundlegenden Ordnungen waren ident mit der am Hof verlangten Körpersprache.
Dass diese Bewegungswelt sich seit 1622 geändert hatte, versteht sich von selbst. So begann die ursprüngliche Einheit zwischen der zu Beginn des 17. Jahrhunderts herrschenden, überaus rigiden, „geometrisch“ zu nennenden Körperordnung des höfischen Gesellschaftslebens und der Bewegungswelt der barocken Festkultur mit dem Fortschreiten des Jahrhunderts mehr und mehr auseinanderzudriften. Die entstandenen zwei Teile waren: der sich weiterentwickelnde, von den Mitgliedern des Hofes ausgeführte (Gesellschafts-)Tanz und die immer größer werdende Theatralisierung der Festkultur, die den ursprünglich Agierenden eine andere Ebene – die der Zuschauer – zuwies. Die Gründe für den Lösungsprozess waren ebenso mannigfaltig wie seine Konsequenzen. Inwieweit gerade das auf dem Gebiet des Tanzes vielzitierte Gegeneinander von Italienischem und Französischem im weitesten Sinne zu den „Kaiserbildern“ – Leopold I. versus Ludwig XIV. –, somit zu den „Medienstrategien“ gehörte, muss genauer untersucht werden. Dem französischen Herrscher trug sein Tanzauftritt als „Aufgehende Sonne“ im „Ballet de la nuit“ 1653 (Libretto: Isaac de Benserade) immerhin den in die „Weltgeschichte“ eingegangenen Beinamen „Sonnenkönig“ ein! Eine Abbildung von Leopold I. in Tanzpose ist das 1667 erstellte Gemälde von Jan Thomas van Yperen, das den Kaiser im Kostüm des Acis in der Favola pastorale per musica „La Galatea“ darstellt. Ein Pendant zu diesem Gemälde zeigt Leopolds erste Ehefrau Margarita Teresa kostümiert als Galatea.
Neben der Bewegungswelt des Hofs, die auch Besonderheiten wie Rossballette, Kampfspiele – sie waren wegen der dort ausgeführten akrobatischen Sprünge beliebt – sowie Turniere zur Aufführung brachte, blühte die Welt des Theaters des Volkes, die ihrerseits vielgestaltig und so stark war, dass sie in den sogenannten „Wirtschaften“ (Adelige verkleideten sich als Bauern) zurück auf den Hof ausstrahlte. Dazu gehörten die Wandertruppen, die umherziehend sich vorwiegend vor einem volkstümlichen Publikum präsentierten und sich daher einer ausdrucksvolleren Körpersprache bedienten. Dies ist sowohl in der heute noch existierenden, in sich geschlossenen Welt der Commedia dell᾽arte zu sehen, die immer wieder auch am Hofe gastierte, als auch in der Welt des Faschings beziehungsweise des Karnevals. Diese Welt ist in einer herausragenden Publikation, Gregorio Lambranzis „Neue und curieuse theatralische Tantz-Schul“, dokumentiert. Die gerade 300 Jahre alt gewordene italienisch/deutsche Quelle des – nach eigener Aussage – venezianischen Ballettmeisters hält das Bewegungstheater des Volkes kurz nach 1700 fest. Die herausragende Aussagekraft dieses 1716 in Nürnberg erschienenen Buches führt das öffentlich aufgeführte Tanzgeschehen einer neuen ständisch-städtischen Zeit vor, das das bäuerliche Leben mit einschließt.
Jedes der 101 Blätter der Schrift zeigt, jeweils in ein passendes theatralisches Ambiente gestellt, das breite Rollenreservoir und Szenenrepertoire dieses Theaters. Unter den Figuren – Männer und Frauen –, die der „Lambranzi“ auflistet, sind: einige wenige Noble, Masken, meist grotesken Charakters, Unterhaltungskünstler und Figuren des komischen Theaters wie Hanswurst und Narren, weiters Zauberer, Zigeuner, Teufelsbanner, Taschenspieler, Jongleure, Schwarzkünstler. Dazu kommen Angehörige anderer Nationen mit ihren Tänzen, Commedia-dell’arte-Figuren sowie groteske Bauern. An Ständen und Berufen sind vertreten: Schiffer, Jäger, Böttcher, Gärtner, Soldaten, aber auch Bildhauer. Des Weiteren: Türken, Mohren, Sklaven, Hexen sowie allegorische Figuren wie Satyrn. Das Augenmerk der bildlichen Darstellung liegt auf der Körperkunst der Personen sowie auf den aufwendigen Kostümen. 272 Jahre nach seinem Erscheinen wurde das Buch in Gerhard Brunners Ära als Direktor des Balletts der Wiener Staatsoper zum Bühnenleben erweckt: Jochen Ulrich schuf 1988 zu Mauricio Kagels Komposition „Ballet d’action“ das „neue und curieuse“ abendfüllende Handlungsballett „Tantz-Schul“ (eine Koproduktion mit dem steirischen herbst).
Tänzerfächer
Mit den geschilderten Bewegungswelten im Blick, gilt es nun erneut zu fragen: Welche Art von Rollen hatte Johanna Scio zu tanzen? Eine Frage, die erst dann zu beantworten ist, wenn man weiß, welchem Tänzerfach sie angehörte. Mit dem Thema „Tänzerfach“ wird ein zentrales Element des choreografischen Bühnenschaffens aufgegriffen, denn um dieses sind (Ballett-)Libretto, Dramaturgie und Personenkonstellationen gebaut, ist die Musik komponiert, die Choreografie erstellt. Die Tänzerfächer sind es auch, die die Verbindung zwischen den Bewegungswelten herstellten, sie ermöglichen im Laufe des 18. Jahrhunderts, mühelos von der Bewegungswelt des Hofes in die bürgerliche oder die Welt des Volkstheaters zu wechseln. Und die Tänzerfächer sind es schließlich, die nicht nur Personenkonstellationen konstruieren, sondern auch Szenentypen formen. Diese Praxis gilt – mit wechselndem Kontext – bis in das Ballett des 20. Jahrhunderts.
Die Fächerzugehörigkeit leitet sich von den Gegebenheiten des Körpers ab. Gemäß seiner Proportionen ist er entweder ausbalanciert (= nobles Fach) oder unregelmäßig (= Charakter- oder groteskes Fach). Dazwischen liegt das weder dem einen noch dem anderen Zuordenbare (= das Halbcharakterfach). Zur Veranschaulichung von Tänzerfach und Szenentyp sei der größte Hofevent des Jahres 1722 herausgegriffen: die Hochzeit der Erzherzogin Maria Amalie (die Tochter des bereits verstorbenen Josef I.) mit dem Kurprinzen Karl Albrecht von Bayern. (Andrea Sommer-Mathis hat das Ereignis in ihrem Buch „Tu felix Austria nube. Hochzeitsfeste der Habsburger im 18. Jahrhundert“ festgehalten.) Da dieses Hochzeitsfest kleiner gehalten war – größere Feierlichkeiten folgten in München –, kam keine große mehraktige Hochzeitsoper zur Aufführung, sondern nur die einaktige Festa teatrale „Le Nozze di Aurora“. Das Libretto des Italieners Pietro Pariati war in der griechischen Mythologie angesiedelt, die Musik stammte von Johann Joseph Fux, die Ballettmusik komponierte Nicola Matteis jun., die Choreografie schufen Levassori della Motta und Alexander Philebois. Die Aufführung fand am 6. Oktober 1722 im Komödiensaal der Favorita auf der Wieden statt, der mit Dekoration von Giuseppe Galli Bibiena Festcharakter erhalten hatte. Wie allgemein üblich, stand hier die Ballettszene – bei einer mehraktigen Oper gab es meist drei solcher Szenen zwischen den Akten, dazu kam das Schlussballett, das meist von den adeligen Herrschaften ausgeführt wurde – mit der Handlung nur in loser Verbindung. Die Ballettszene, die nach der 11. Szene der Oper platziert war, wurde eingeleitet mit einem Chor von heroischen Genien und unschuldigen Liebesgöttern. Die nunmehr alle solistisch auftretenden Allegorien – Ruhm, Jugend und Unschuld – bekränzen Amorino. Der neuerliche Auftritt des Chores, in den sich nun ein Tanz der „Hochzeitsgenien“ schiebt, beschließt die Ballettszene.
Es kann davon ausgegangen werden, dass die Produktion, wie so oft, in fliegender Hast zustande gekommen war. Dies unter anderem auch deswegen, weil der Kaiser sich erst im letzten Moment für die Favorita als Aufführungsort entschieden hatte. Für die Ausführenden mochte dieser nicht weit außerhalb der Stadtmauern gelegene Aufführungsort akzeptabel gewesen sein. Andere – Schloss Laxenburg, weitere Schlösser oder Gärten – waren für sie schwerer erreichbar. Gravierendes Hindernis an der Favorita war diesmal, dass in ebendem Saal, wo die Festtafel abgehalten wurde, die theatralische Vorstellung folgen sollte. Das heißt, dass man zuerst die für das Essen nötigen Möbel zu entfernen hatte, um Sitzbänke aufzustellen, auf denen die Hochzeitsgesellschaft in strenger hierarchischer Ordnung ihre Plätze zugewiesen bekam. Wo die Ausführenden, die Instrumentalisten, die Sänger und Tänzer, geprobt hatten, ist ungewiss, ein den Tänzern zugewiesener Ort dafür ist nicht überliefert. (Das Ballett bekam erst 1869 in der Hofoper am Ring einen eigenen Ballettsaal.) Nicht überliefert sind auch Details der Arbeit. Es ist davon auszugehen, dass der (Ballett-)Komponist Matteis „seine“ Tanzmeister, mit denen er zu arbeiten hatte, sehr gut kannte, sodass nur mehr eine kurze Verständigung mit ihm für das laufende Projekt vonnöten war. Es ist auch anzunehmen, dass der Komponist sowohl mit dem Raum, in dem die Vorstellung stattfand, wie auch mit den TänzerInnen, für die er zu komponieren hatte, ihrem Fach und ihren Vorzügen, vertraut war. Die Musik war entsprechend dem Ort der Handlung, dem Charakter und dem Geschlecht der darzustellenden Personen gehalten. Sie konnte langsam, nobel und gravitätisch sein, lieblich und heiter, munter, pointiert akzentuiert, kraftvoll, auftrumpfend oder düster und grotesk. Der Tanzkörper, der meist ein Narrativ zu vermitteln hatte, war in der Hauptsache noch immer en face geführt, betonte weiterhin die Hoch-Tief-Achse und wies bereits eine Koordination zwischen Armhaltungen und Beinarbeit auf, wobei der Körper – auch dank der leichter werdenden Kostüme – immer „durchlässiger“ für den Bewegungsfluss wurde. Besondere Ausdrucksmittel waren nun die Arme, die Arm- und Handgelenke sowie die Hände.
Von Rolleninterpretationen und stilistischen Ausrichtungen
Welche Solopartie – Ruhm, Jugend oder Unschuld – hatte man mit Johanna Scio besetzt? Obwohl man weder ihre tänzerischen Vorzüge noch ihre äußere Erscheinung kennt, könnte man sich auf die Rolle der Jugend einigen. Dies geschieht mit dem Wissen um die Rollentraditionen und Interpretationen des 19. Jahrhunderts und der Annahme, dass diese Praxis sich schon im 18. Jahrhundert ausgebildet hatte. Während man die für den Hof so wichtige Allegorie des Ruhms sicher mit einem männlichen Tänzer besetzte – wahrscheinlich mit einem dynamisch geführten Noblen –, Amorino mit einem jugendlichen Tänzer, vielleicht sogar mit einem Kind, setzte die Unschuld eine gewisse Tanzerfahrung voraus, denn sie musste ebenso „Nobilität“ wie Frische ausstrahlen. (Da offenbar noch keine zweite Berufstänzerin zur Verfügung stand, könnte man davon ausgehen, dass die Rolle der Unschuld mit einer Adeligen besetzt war.) Die Jugend – und diese Rolle verkörperte wahrscheinlich Johanna Scio – hatte spielerisch-munter, spontan und keck zu sein, Qualitäten, die die bereits Tanzerfahrene sicherlich besaß.
Von den vielen Fragen, die nicht mehr zu beantworten sind, ist diejenige nach der stilistischen Ausrichtung wohl die interessanteste. Waren Schrittvokabular, Körper- und Armhaltung, wie sie Johanna Scio ausführte, italienischer oder französischer Art? Und darüber hinaus: Ist ein bestimmter Zeitpunkt festzumachen, ab dem am Wiener Hof der Einfluss der französischen Stilistik bemerkbar ist? Neben den Inhaltsangaben der Ballettlibretti sind bei Herbert Seifert, dem famosen Chronisten der Habsburger Musiktheaterkultur, auch Anmerkungen zu finden, die für die Entwicklung des Balletts von höchstem Interesse sind. Der eine Bereich betrifft das langsame „Einschleichen“ französischer Tanzkunst in den Wiener Hof. 1663 etwa tanzt Eleonora II., Witwe nach Kaiser Ferdinand III., eine Sarabande „in französischer Art mit Kastagnetten“, ihr Tanzlehrer sei, so wird berichtet, eben aus Frankreich gekommen. (Die kunstsinnige Eleonora II. stammte wie ihre Großtante Eleonora I. aus dem Hause Gonzaga.) Und 1666 habe der französische Gesandte französische Tänzer präsentiert, die sich nach einigen Auftritten auch vor der Kaiserinwitwe und Kaiser Leopold I. zeigten. Dem Kaiser habe aber, so ist überliefert, diese Art des Tanzens nicht gefallen. Ebenfalls 1666 wurde ein als „Balletti Francesi“ ausgewiesener, von Herzog Karl V. von Lothringen und elf kaiserlichen Kammerherren getanzter „Gran Ballo“ aufgeführt. 1675 wiederum beschwert sich ein Geiger, er habe bei der Begleitung von „französischen Dänzen“ keine extra Besoldung erhalten.
Der zweite tanzspezifische Bereich, der thematisiert wird, betrifft jenen Zeitpunkt, zu dem der Kaiser sich allmählich vom aktiven Bühnentanzgeschehen zurückzuziehen begann, um den Platz professionellen Tänzern zu überlassen. Es war offenbar der 1670 aus Venedig gekommene neu engagierte Librettist Nicolò Minato, der einen – allerdings von ihm nicht intendierten – Paradigmenwechsel in Gang setzte. Er beanstandete die professionellen Tänzer, die, wie er meinte, das Tanzen des Kaisers in den Schatten stellen. Die Konsequenz war, dass nicht die Tänzer, sondern der Kaiser in der Folge seine diesbezüglichen Aktivitäten einschränkte. Um ihn weiterhin bestmöglich sichtbar bleiben zu lassen, platzierte das Zeremoniell den Herrscher in der Mitte des Raums, später, um ihm bessere Sicht zu geben, in einer Loge. Von hier aus konnte der Kaiser – wie dies etwa Karl VI. tat – nicht nur Vorstellungen, die nunmehr auch als Reprisen gegeben wurden, sondern auch seine tanzenden Kinder beobachten. Die Zeit, in der der Kaiser Auftraggeber, Adressat, zuweilen Komponist, darüber hinaus aber auch der eigene Interpret ist, hat sich vollendet. Hatte es einst geheißen, das Ballett sei – vom Kaiser getanzt – die Essenz des musiktheatralischen Werks, so gerät dieses Gefüge nun ins Wanken.
Schließt man von dem schon Jahrzehnte dauernden Vordringen des Französischen auf die Tanzweise der Johanna Scio, so kann sehr wohl davon ausgegangen werden, dass sie, besonders was den Einsatz der Arme angeht, Aktuelles, das heißt also „Französisches“, tanzte. Ob der Stil der Hoftänzer einheitlich war, darf umso mehr bezweifelt werden, als die in Wien tätigen Tanzmeister und Tänzer vor 1700 ganz verschiedener Herkunft waren. (Mit Monsieur Poitier nennt Seifert einen nur kurz in Wien tätigen französischen Tanzmeister.) Auch die Anzahl der Tänzer war ganz verschieden gewesen. Sie reichte von vier bis zu 24 Tänzern, am häufigsten waren es sechs bis neun Personen, eine Zahl, die von Produktion zu Produktion verschieden war. Nach dem Tod Kaiser Josefs I. 1711 war das gesamte Personal entlassen worden. Unter seinem Nachfolger Karl VI. wurden 1712, neben Claudio Appelshofer als Tanzmeister, sieben Tänzer und ein Hoftänzerscholar herangezogen, 1713 wurden sie alle in ihren Positionen bestätigt.
Wie das Solo der Johanna Scio nun angelegt war, ist nicht überliefert. Sicher ist, dass die Raumwege des Solos klar gezeichnet waren. Was das Bewegungsvokabular betraf, so hatte sicherlich die Fußarbeit wesentlich an Terrain gewonnen; ob es zu einer Interaktion mit den anderen Solopartien kam, ist ungewiss. Was die räumliche Anlage der Choreografie betrifft, war sie sicherlich symmetrisch gehalten, wobei auf die Platzierung des Kaisers im Zuschauerraum zu achten war. Entlang seiner Sichtachse nämlich musste sich das Geschehen – symmetrisch – entfalten. Von einiger Bedeutung dafür war sicherlich der Chor, der nicht nur die Ballettszene eröffnete und beendete, sondern der auch eine symmetrisch angelegte räumliche Klammer für die Szene bildete. Ob sich in dieser Zeit bereits der singende mit einem tanzenden Chor mischte, kann wohl nicht mehr festgestellt werden; ob der von Fux komponierte Schluss des Stücks, eine Tanzsuite, von Mitgliedern des Hofes getanzt wurde, ist ungewiss. Ebenfalls ungewiss, aber sehr wahrscheinlich ist, dass Johanna Scio neben ihren „offiziellen“ Auftritten „private“ Engagements annahm. Hier war, wie bei den größeren Festen bei Hof auch, ein etwas breiteres Publikum zugelassen. Unwahrscheinlich hingegen ist, dass sie gemeinsam mit Adeligen tanzte. Obwohl oder weil der Tanzmeister sich bei diesen Anlässen an keine Vorgaben halten musste, könnte man hier die Gelegenheit wahrgenommen haben, in Richtung Ausweitung der Tanztechnik oder eines von der Oper unabhängigen Balletts zu experimentieren.
Als man am Wiener Hof die nächste, diesmal wirklich große Hochzeitsoper ausrichtete – sie wurde 1736 anlässlich der Hochzeit der Erzherzogin Maria Theresia mit Herzog Franz Stephan von Lothringen gegeben –, hatte sich Johanna Scio, verehelichte Philebois, bereits (1735) „resigniret“. Riki Raab hält in ihrem „Biographischen Index des Wiener Opernballetts von 1631 bis zur Gegenwart“ den 8. August 1753 als Sterbedatum der ersten „Wirklichen Hoftänzerin“ fest; als Sterbeort führt sie Wien an.
Fortsetzung folgt
22. August 2022: 400. Geburtstag des Wiener Staatsballetts (Teil I)