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02 icon BronislawaWas hat – so könnte man fragen – die Besprechung einer von ukrainischen Künstlern Ende Juni/Anfang Juli 2023 im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau/Dresden gegebenen „Lecture-Performance“, die dem Werk der großen polnisch/russischen Choreografin Bronislawa Nijinska galt, in den „Wiener Tanzgeschichten“ zu suchen? Abgesehen davon, dass die Autorin 1974 ihre Dissertation über die Nijinska abgeschlossen hat, lautet die Antwort: Das ursprünglich auf Russisch verfasste theoretische Material, auf dem die Ukrainer auch bauen, wurde wohl zum ersten Mal 1930 in der von der Universal Edition Wien herausgegebenen Zeitschrift „Schrifttanz“ publiziert.

Die Gegebenheiten um die Veröffentlichung von Nijinskas Thesenpapier „Von der Bewegung und der Schule der Bewegung“ im „Schrifttanz“ (3. Jg., Heft I, April 1930, S. 3–6)[1] – die von dem nachmals berühmten Musikverleger Alfred Schlee geleitete Zeitschrift diente der Propagierung der heute als „Labanotation“ bezeichneten, von Rudolf von Laban entwickelten Tanzschrift – sind schnell genannt: Clemens Krauss, seit 1929 Direktor der Wiener Staatsoper, war in Bezug auf die Neubesetzung des Ballettmeisterpostens des Hauses ein einmaliger Coup gelungen: das Engagement von Nijinska, eine der wichtigsten Tanzschaffenden der Zeit. 

Abgesehen von der Tatsache, dass Nijinska (1891 Minsk – 1972 Pacific Palisades, Kalifornien) die erste wirklich große, international agierende Choreografin war und als solche in einem seit Jahrhunderten von Männern dominierten Künstlerberuf Fuß fassen konnte, wirkten ihre Werke nachhaltig: Ihre Arbeiten waren es, die den ganz jungen, zu akrobatischen Eskapaden neigenden Georgi Balantschiwadse auf den neoklassischen Weg brachten, der ihm den Namen George Balanchine eintrug; ihr Charakter findet sich in Frederick Ashtons nervös-raffiniertem Bewegungsduktus ebenso wieder wie in Serge Lifars übersteigert-selbstbewusster Manier. Zudem reicht ihr verlängerter Arm bis zum herausragenden Werk ihres Bruders Wazlaw Nijinski und damit auch direkt zu Igor Strawinski. Mit der Choreografie zu dessen für die Ballets Russes geschaffenem „Les Noces“ hatte Nijinska 1923 erstmals Tanzgeschichte geschrieben. Mit ihrer festen Verankerung in der klassischen Basis schien Nijinska also die perfekte Wahl zu sein, das Ballettensemble der Staatsoper zu reformieren. Die Ereignisse, die dazu führten, dass sie bereits nach 37 Tagen Wien den Rücken kehrte, sind an diese Stelle schon ausführlich erzählt worden. („Wiener Tanzgeschichten“, 5. April 2018)

04 BronislawaVon Schlee, dem Wegbereiter und Verleger der musikalische Moderne, nach Hellerau in die ehemalige Bildungsanstalt Émile Jaques-Dalcroze zu gelangen, wo die Kiewer TanzforscherInnen nun auftraten, bereitet keinerlei Schwierigkeiten, ist doch der große Anreger nicht nur in Dresden geboren, sondern hatte auch selbst in Hellerau studiert und gehörte als junger Mann als Organisator wie als Musikbegleiter solcher Größen wie Mary Wigman, Yvonne Georgi, Kurt Jooss oder Oskar Schlemmer sowie später, wie schon erwähnt, als Propagierer Labans auch der Tanzmoderne an. (Dass das einst magische Hellerau – ein Laboratorium der Moderne – nach der „Wende“ in diesem Sinn wieder auferstand, gehört zu den herausragenden Errungenschaften der jüngeren deutschen Tanzszene.)05 Bronislawa

Der Zeitraum eines ganzen Jahrhunderts spannt sich nun also von dem damaligen Agieren bis zum Gastspiel des Kiewer Projekts, das sich „Bronislava Nijinska Dance Reconstruction“ nennt und unter der Leitung von Viktor Ruban und Svitlana Oleksiuk steht. Die Vorstellungen sind das Resultat eines jahrelangen, vorerst im September 2021 abgeschlossenen Rechercheprozesses, der sich mit den Kiewer Jahren der Nijinska beschäftigt, die, mit Unterbrechungen, den Zeitraum von 1915 bis 1921 umfassen.[2] Damit fällt der Blick nicht nur auf die Werdejahre einer wirklich Großen, sondern auch, künstlerisch gesehen, auf eine gloriose Vergangenheit, gleichzeitig aber auch auf Jahre größter politischer Unruhen und Kämpfe zwischen Ukrainern, „Roten“ und „Weißen“ Russen. 

 

06 BronislawaSteps into the „Glorious Past“

Mit dem nunmehr täglichen Blick auf die Ukraine öffnen sich rückschauend auch Fenster, durch die das reiche kulturelle Geschehen des Landes gerade in den Jahren während und nach der Russischen Revolution in neuem Licht sichtbar wird. Mehr und mehr wird allgemein bekannt, dass es nicht nur die aus den großen Städten Petrograd und Moskau südwärts geflohenen AvantgardistInnen waren, die die neue Kunst in Städten wie Kiew, Charkiw oder Odessa bestimmten, sondern auch aufstrebende Heimische. Vielen dieser KünstlerInnen jedweden Genres – MalerInnen, Theater- und Filmleute, KomponistInnen, ChoreografInnen, Lichtdesigner, FotografInnen – war gemeinsam, dass sie, unzufrieden mit alten Ausbildungssystemen, neue Lehrkonzepte entwickelten. Nunmehr durch neue Methoden geschult, bezogen heimische Studierende rasch eigene Positionen. An diesen wiederum orientierten sich auch Lehrende, etwa Nijinska. Ihre choreografischen Anfänge sind in dieser ebenso pulsierenden wie ungemein entbehrungsreichen Zeit zu verorten. 07 Bronislawa

Dass diese besondere Entwicklung von zahlreichen Publikationen begleitet wird, ist naheliegend. Auf zwei kürzlich veröffentlichte sei verwiesen: 2022 erschien, herausgegeben von Konstantin Akinsha, Katia Denysova, Olena Kashuba-Volvach, bei Thames & Hudson Ltd, London, „In the Eye of the Storm. Modernism in Ukraine, 1900–1930s“, ein luxuriös gestalteter Band, der die Vielfalt, die Kraft, vor allem aber die an Ikonen erinnernde betörende Farbigkeit der Malerei der Zeit vermittelt. Dies etwa in Wadim Mellers Bildern, die Nijinskas choreografische Sprache in dynamische Gestalten fassen. Das zweite Buch ist die im selben Jahr bei Oxford University Press, New York, herausgekommene Nijinska-Biografie von Lynn Garafola, „La Nijinska. Choreographer of the Modern“, eine Publikation, die umso willkommener ist, da sie nicht nur den nunmehr in der Library of Congress in Washington zugänglichen Nachlass der Nijinska mit berücksichtigt, sondern auch die Kiewer Zeit detailliert beschreibt.

08 BronislawaBei dem ungemein schwierigen Unterfangen, Nijinskas ganz früher Werke habhaft zu werden, mochte sich, und vielleicht noch mehr als bei anderen Versuchen der Wiederbelebung choreografischer Arbeiten, die Kluft zwischen dem weitgehend verschwundenen Damaligem und den in der Jetztzeit angesiedelten Bemühungen aufgetan haben. Bei Nijinska eröffnen sich dafür aber ganz besondere Quellen. Es sind dies Skizzenbücher, von der Choreografin gezeichnete Raumpläne, Bodenwege, Schrittlisten, Notizen, die Claudia Jeschke „Choreo-Graphien“[3] nennt. Sie entstanden sowohl als „Vorschriften“ wie als „Nachschriften“ zu Bühnenwerken.[4]09 Bronislawa

Ein Aufsatz zu dem nunmehr in Hellerau gezeigten Projekt gibt detailliert über die verwendeten Quellen Auskunft: Hanna Veselovska und Viktor Ruban, „Reconstructing the Glorious Past: Bronislava Nijinska’s School of Movement“ (in: „Theatralia“, Vol. 25, No. 2, 2022, S. 203–222). Die mehr als ein Dutzend gezeigten „Nijinska-Evokationen“ präsentieren sich nun als eine Art Dialog bzw. Interaktion zwischen den Skizzenbüchern und anderen Dokumenten, vor allem von bildenden KünstlerInnen der Kiewer Zeit, in deren Denken und Handeln Nijinska weitgehend verankert war. 

Es sind „neue“, bislang nicht herangezogene, Materialien und Konzepte, verwendete Formen und Farben, Raumvorstellungen, stilistische Eigenheiten, die nun den „neuen“ Nijinska-Stücken ihre Struktur geben. Ausgangspunkt war dabei die „leading figure“ der Kiewer Jahre, Alexandra Exter, deren spätere, im Exil erfolgte Zusammenarbeit mit Nijinska hier ihren Ursprung hatte.[5] Dazu kamen jene, die Exters Kiewer Studio besuchten, etwa Nisson Schifrin und Solomon Nikritin. Als „Hauptlieferant“ wird Meller herangezogen. Dazu kommen Merkmale und Charakteristika des Sprechtheaters der Zeit, wie sie sich etwa unter Les Kurbas herausgebildet hatten. All dies macht den breitgefächerten Einflussbereich auf Nijinskas Arbeiten kenntlich. Das tradierte Material wird – so das überaus anspruchsvolle Konzept – mit Motiven aus Nijinskas „Schule der Bewegung“, das heißt mit schriftlichem Text in Verbindung gebracht. 

 

10 BronislawaKiewer Avantgarde in Hellerau

Völlig überzeugend an dem von Oleksiuk und Ruban geschaffenen Unternehmen – als „externes Auge“ nennt das Programm Viktoriya Myroyuk – ist die Wahl des Formats einer episodenhaft gebauten Lecture-Performance. Dadurch nämlich können die verschiedenen Layers, die das Werk Nijinskas dieser Zeit bestimmten, vor allem aber der künstlerische Umraum gleichzeitig und gleichwertig präsentiert werden. Dass dem Tanz dabei die führende Stellung eingeräumt wird, versteht sich von selbst. Der Auftrittsort im legendären großen Saal des Hellerauer Festspielhauses ist ein mit einem Tanzboden ausgelegter Platz (Bühnenbild und Kostüme: Bohdan Polishchuk, Lichtgestaltung: Yevhen Kopion), eine Leinwand für Projektionen schließt den Ort des Geschehens nach hinten hin ab. An einer Seite steht ein Mikrofon, an beiden Seiten sind Kleiderständer positioniert, die wie kubistische zweidimensionale Verwandte der Picasso-Manager aus „Parade“ anmuten. 11 Bronislawa

Die Musikbegleitung geht erkennbar von einem bestimmten Stück aus, wird aber meist sehr schnell – mit „Respekt“, so die Komponistin Yana Shliabanska – durch Bearbeitung verfremdet. Die Kostüme sind klug gewählt. Das Geschlecht der vier Ausführenden ist nicht distinkt ausgewiesen. Über roten Ganzkörpertrikots tragen sie weiße Kittel und weiße halblange Pluderhosen. Das Haar ist von einem roten Bandeau bedeckt. Veränderungen dieser an traditionelle Tracht erinnernden Kostüme werden nur selten vorgenommen. In den explizit Nijinska und Exter gewidmeten Szenen wechselt eine der Tänzerinnen in eine modische Damenhose der Zeit, die andere in ein wiederum traditionelles, diesmal eindeutig weibliches, sarafanähnliches Outfit; die Tänzerin einer Mephisto-Figur tauscht den Kittel gegen einen Frack. Nur der Abschnitt „Doll“ wird in einem Kostüm getanzt, das an das von Nijinska getragene Original gemahnt. 

12 BronislawaProjiziert wird die Welt der MalerInnen-Avantgarde insbesondere durch Werke von Meller, dazu kommen private und theoretische Texte von Nijinska selbst, die zusätzlich – in deutscher Sprache – gelesen werden. Fotografien werden gezeigt, vor allem aber von Nijinska gezeichnete Notationen. All diese Ebenen greifen nicht nur organisch, sondern auch ergänzend ineinander. Besondere Qualität erhalten die „Miniaturen“ – eine Bezeichnung, die man in der russischen Tanzmoderne benutzte –, die auf sehr frühen Arbeiten der Choreografin beruhen, durch die bewusst emotionslose Darstellungsweise der Geschehnisse. Nüchtern und kühl überlegend, zuweilen improvisierend, führen die vier Tänzerinnen – Olha Vidisheva, Diana Hebre, Olha Kebas und Viktoriia Khoroshylova – ihre Schrittfolgen und Konfigurationen aus, wobei sie in einem Abschnitt die eigene Meinung über ihren Tanz kundtun. Klug gewählt sind auch die eingesetzten körperlichen Mittel. Sie schwanken – entsprechend der Experimentierphase der Zeit – zwischen plastischer Dreidimensionalität und einem flächig, zweidimensional geführten Körper. 13 Bronislawa

 

Die Abschnitte und ihre Abfolge

Das von den Tänzerinnen ausgeführte Bewegungskonzept der ersten der gezeigten Miniaturen, „Colours“, geht von jener am Beginn des 20. Jahrhunderts aktuellen Annahme aus, bestimmten Farben könnten bestimmte Bewegungen zugeordnet werden. Dazu wird eine Tagebucheintragung Nijinskas herangezogen, die den Tänzerinnen behilflich war bei ihrer Suche nach „the inner image and spaciousness, as well as for a certain typical form of movement and the quality of what was called the sense of colour“. In „Colour Dynamics“ leiten sich die angesprochenen Farben wiederum von den musikalischen Farben jener Partitur von Anton Arenski ab, die dem Ballett „Ägyptische Nächte“ als Grundlage diente. Das wiederum wird in Kontext zu bildlichen Materialien und skulpturalen Bewegungselementen gestellt. Dem musiklosen Abschnitt „The First Duet Nijinska–Exter“ liegt die Beziehung zwischen Exter und Nijinska zugrunde, dabei werden Grafik, Fotografien und gestisches Material miteinander in Bezug gebracht. „Masks“ beruht auf einem Bild Mellers, wobei ein weit ausschreitendes Bewegungsmotiv zu einer eigens dazu komponierten Musik von Shliabanska die Agierenden vereint. In „Geometry“ wird eine Probensituation in Nijinskas Schule heraufbeschworen. Dabei soll auf die unorthodoxe Art Nijinskas zu proben verwiesen werden; dazu kommen projizierte Skizzen von Bodenwegen, wie sie die Choreografin wohl schon vor Probenbeginn für ein neues Werk festhielt. 

14 BronislawaIn „Doll“, Nijinskas 1915 für sich selbst kreiertes Solo, wird die tanzende Figur einer Puppe zusätzlich von der Personifikation der Choreografin mit Seilen und Stäben manipuliert. „Horror“, in absoluter Stille ausgeführt, geht von Mellers Darstellung des Tanzes aus. Da nicht als Solo, sondern in einer Paarkonstellation dargeboten, ergeben sich die bestimmenden Bewegungsmotive aus dem Prinzip „the mirror of inaccurate synchronicity“. Bewegungsvarianten eines Trauermarsches basieren in „‚Medtner‘ – dance reconstruction of ‚The Mourning March‘“ auf Nijinskas Choreografie „Demons“. In „Nijinska’s Diaries“ stehen vorgetragene Textpassagen aus ihren Tagebüchern 1919–21 im Mittelpunkt. Dabei geht es weniger um Narrative als vielmehr um Körperreaktionen auf Sprechbetonungen und Sprechrhythmus. In „A Rhapsody to the Music of Ferenc Liszt“ werden wiederum Tagebüchertexte herangezogen. Dabei wird unter Verwendung von erhaltenen Skizzen versucht, Nijinskas emotionale Verfasstheit, ihre Beweggründe und Motive in der Zeit des Kreierens zu beleben. Im Mittelpunkt von „The Second Duet Nijinska–Exter“ steht ein Brief Exters an Nijinska, in dem es um die Beziehung der beiden Künstlerinnen geht. Der Bewegungsablauf wird bestimmt von dem Kontrast zwischen Stills, Blackouts und dem Fortschreiten der Aktion. „Mephisto Waltz to the Music of Ferenc Liszt“ schließlich baut wiederum auf Notizen und Skizzen zu diesem Stück. Ein Narrativ ergibt sich daraus, dass eine Tänzerin den Part von Mephisto übernimmt und Gewalt über die anderen ausübt. 15 Bronislawa

Bewegungsmäßig wird sowohl auf grafische Linienführung, Dynamik wie auch statueske Qualität gebaut, Charakteristika, die sich später zu zentralen Elementen der Choreografin entwickeln sollten. Die Konfigurationen der Tänzerinnen ergeben sich aus einer überaus kreativen Recherche und sind besonders überzeugend, wenn man en face stehend, eng aneinandergedrängt und flächig geführt, auf Nijinskas später gefeierte choreografische Sprache verweist. Dabei wird aber nicht – und dieser Verführung widerstanden zu haben, mochte besonders schwergefallen sein – Nijinskas tatsächlich überliefertes Material zitiert, sondern es wird eine Sprache gefunden, wie sie vor der Kreation von „Les Noces“ hätte sein können. In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass man auf das in „Les Noces“ bestimmende choreografische Element, das Motiv der übereinandergeschichteten Körper – vielleicht bewusst? –, verzichtete. Damit bleibt aber auch die Frage, woher sich dieses Motiv ableiten lässt, weiter ein Rätsel. Dass es gewiss mit dem in der russischen Moderne gepflegten bildhaft volkstümlichen Verständnis von Religiosität zu tun hat, ist naheliegend. Dies umso mehr, als Nijinska jenes Ballett, das choreografisch gesehen „Les Noces“ am nächsten ist, „Holy Etudes“ nennt.

16 BronislawaInsgesamt stellt sich der Erfindungsreichtum der Choreografin Oleksiuk als derart einfühlsam dar, dass die – später erzielte – Größe der Nijinska sichtbar wird. Dass die Autoren des Abends nicht umhin konnten, eine „Anxious Kyiv“ betitelte Miniatur mit einzuschließen, liegt auf der Hand. Man agiert vor einer Aneinanderreihung von vergilbten Fotografien einer dynamischen Großstadt, die innerhalb der wenigen Jahre von Nijinskas Aufenthalt unzählige Regimewechsel über sich ergehen lassen musste.

 

Auf der Suche nach Bewegung

Die geschilderte, ebenso komplexe wie kenntnisreiche, Vorgangsweise, Form, Bewegungssprache und Gestalt für die Miniaturen zu finden, nimmt Bezug auf eine diesbezügliche Forderung Nijinskas: Die tänzerische Sprache muss von Bewegung durchpulst sein. Der Bewegung galt also ihr erstes Interesse, und dies sowohl was die tänzerische Darbietung betrifft als auch die Choreografie selbst. Bewegung steht auch im Mittelpunkt ihres Thesenpapiers, das, wie schon erwähnt, 1930 in deutscher Sprache erschien, das aber, nach Nijinskas eigenen Aussagen, mit dem Untertitel „Theorie der Choreografie“ bereits 1920 in Kiew verfasst wurde (und schon zwei Jahre davor seinen Ursprung hatte).17 Bronislawa

„Die Bewegung“, heißt es da, „ist das Hauptelement des Tanzes, seiner Handlung“. Schon einleitend folgt sofort die Forderung: „Die moderne choreographische Schule muß die Bewegung in die Tanztechnik einführen, die Theorie und die Mechanik des Tanzes begründen“, denn, so Nijinska, wie die Farbe das Material der Malerei ist, der Ton das Material der Musik, ist die Bewegung das Material des Tanzes. „Nur in der Bewegung lebt der Rhythmus. Die Bewegung macht den Körper tätig.“

18 BronislawaDiese apodiktischen Sätze entsprechen den Forderungen der Zeit. Sie entspringen der ungemein vielschichtigen russischen zeitgenössischen Tanzszene, die zumindest zweigeteilt ist: zum einen in eine „freie“ Szene, die im Sog der Isadora Duncan eine Moderne fernab des Balletts formen will, zum anderen in eine avancierte Ballettszene, die zwar versucht, die Ordnung der „alten“ Schule beizubehalten, sie jedoch zu reformieren. Da der Tanz der Duncan mehr auf Intuition denn auf einer schulmäßig weitergebbaren Körpertechnik baute, griff man – in Russland auf den Weg gebracht vom „Künder der Moderne“ Sergej Wolkonski – als Basis für Neues zum Delsartismus und zur Rhythmusbewegung von Jaques-Dalcroze. Beides gab, auf verschiedene Weise, dem „freien“ Körper den nötigen Halt. 

Nijinska wiederum ist zwar vom Bewahren der alten Schule überzeugt, war aber bestrebt, diese durch neue Bewegungskonzepte zu bereichern. Dies zu verwirklichen, fühlte sie sich umso mehr berufen, als sie es gewesen war, die als engste Mitarbeiterin ihres Bruders jene Ballette zu kreieren mithalf, die heute als Schlüsselwerke der Bühnentanzmoderne angesehen werden: „L’Après-midi d’un faune“ (1912) und „Le Sacre du printemps“ (1913), aber auch „Jeux“ (1913).19 Bronislawa

Das Zurückdenken an die Arbeit an „Sacre“ war für die Nijinska offenbar mit einem hohen Grad an Bewegungsvorstellung verbunden. Modellhaft mochte ihr erschienen sein, wie es dem Bruder gelungen war, sowohl das Solo der Auserwählten wie Corps-de-ballet-Passagen mit Bewegung zu durchpulsen. In seiner Besprechung von Pariser „Sacre“-Proben im Mai 1913 gibt Wolkonski Zeugnis davon. (Da Nijinska zu dieser Zeit schwanger war, hatte Maria Pilz die Rolle der Auserwählten übernommen.) Wolkonski schreibt: 

20 Bronislawa„Zwei Elemente ragen aus seinem [Nijinskis] plastischen Schaffen heraus: die Rhythmisierung und die Stilisierung der Bewegungen. Wer ein wenig nachdenkt über den Wert, den die Bewegung im Sinne eines künstlerischen Materials darstellt, der muss erkennen, dass nur diese zwei Elemente eine künstlerische Bewegung gewährleisten. Die Bewegung muss untergeordnet sein dem musikalischen Takt, den Nuancierungen seiner rhythmischen Zeichnungen, und sie muss untergeordnet sein dem bekannten, festgesetzten Kanon der Ausdrucksfähigkeit.“ Und Wolkonskis angesichts der Proben getroffene Feststellung von dem „absichtlichen Durchdrungensein jeder Bewegung, dem Fehlen von Leere, der Erfülltheit jedes Augenblicks“ mochte Nijinska nicht nur in besonderer Erinnerung sein, sondern auch Ausgangspunkt für Eigenes. Nun war sie es, die für ihre 1919 gegründete Kiewer Schule, deren Aufgabe es auch sein sollte, für ihren Bruder Tanznachwuchs heranzubilden, Bewegung einforderte, die als Verbindung der alten Schritte das Ballett zu Neuem führen würde. „Das Element des Tanzes ist die Bewegung und nicht die Pose“, war Nijinskas Credo. Der Ausdruck sollte nicht von einem Narrativ, sondern von den Schritten selbst kommen. Demzufolge wurde an der Schule das Fach „Bewegungsausdruck“ unterrichtet.21 Bronislawa

Von Wichtigkeit in diesem Zusammenhang ist, dass Sergej Diaghilew im November 1912 mit Nijinski und Nijinska Hellerau besucht hatte. (Es war dies bereits Diaghilews zweiter Besuch in der Rhythmusanstalt in diesem Jahr.) Nijinskas damals spontan geäußerte Kritik galt dem durch das Jaques-Dalcroze-System entstehende – wie nicht nur sie dies empfand – Abhängigkeitsverhältnis zwischen Musik und Choreografie. Dies stand im Gegensatz zu ihren Bestrebungen, weitgehend unabhängig von Musik zu arbeiten, im Idealfall diese sogar erst zu einer bereits existierenden Choreografie komponieren zu lassen. Im „Neuen Wiener Tagblatt“ (21. Jänner 1930) sagt sie dazu: „Der Tanz ist eine völlig selbständige Kunst […] So könnte ich mir auch einen Tanz ohne jede Musik denken!“ Ihre in der Rückschau geäußerte Kritik an dem in Hellerau Gesehenen war wahrscheinlich auch der Tatsache geschuldet, dass Diaghilew dort eine Assistentin für Nijinski (Marie Rambert) engagierte, womit sie von der Seite ihres Bruders verdrängt worden war. Zu ergänzen wäre auch, dass Wolkonski in Zusammenhang von „Sacre“ von „ikonenhaftem Kubismus“ sprach, eine Bezeichnung, die noch zutreffender für Nijinskas „Les Noces“ herangezogen werden kann. 

Es bleibt ein Paradoxon festzuhalten. Sooft Nijinska schriftlich auch Bewegung forderte, so wenig erläutert sie, wie dies denn praktisch erlernbar und schließlich auszuführen sei. Dass es ihr offensichtlich gelang, Bewegung im Unterricht tatsächlich zu vermitteln, davon geben sehr berühmte Schülerinnen Zeugnis. Am erstaunlichsten wohl Allegra Kent, deren Körper selbst in Momenten der ruhenden Stille (etwa im „Agon“-Pas de deux) von fortschreitendem Puls bewegt ist. 


22 BronislawaDas „Problem Russland“ wird sichtbar

Die politischen Ereignisse ließen nicht nur Nijinskas Kiewer Schule scheitern – sie bestand nur zwei Jahre –, sie selbst sah auch für ihren weiteren Verbleib in der nunmehrigen Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik keinen Sinn. Es dauerte Monate, bis ihr die Flucht in den Westen gelang. Die Ereignisse um ihre Ankunft in Wien, die Wiederbegegnung mit dem kranken Bruder, sind bereits in einer früheren „Wiener Tanzgeschichten“ (11. Februar 2017) erzählt worden. In den wenigen Monaten – Mai bis September 1921 –, die sich Nijinska in Wien aufhielt, versuchte sie sich selbst und ihre Familie durch Auftritte über Wasser zu halten. Daneben nimmt sie Kontakt zu Diaghilew auf, zieht aber auch die Eröffnung einer Schule in Wien in Betracht und lässt sich im fashionablen Residenz-Atelier fotografieren.23 Bronislawa

Mit Wladislaw Karnecki als Partner – er war Mitglied der Kiewer Oper und wiederholt der Ballets Russes – tritt sie vom 1. August bis Mitte September im Tanz-Etablissement Moulin Rouge in eigenen Choreografien auf. Nijinska, die in Wien noch von den Ballets-Russes-Gastspielen 1912 und 1913 in der Hofoper in Erinnerung ist (sie hatte da u. a. Papillon in „Le Carnaval“, das Polowetzer Mädchen in „Polowetzer Tänze“, Mazurka in „Les Sylphides“, die Ballerina in „Petruschka“ und eine Nymphe in „L’Après-midi d’un faune“ getanzt), wird von der Wiener Presse als „weltbekannt“ angekündigt. „Bei der Generalprobe“, so wird berichtet, habe sie „vor einem Parterre von Künstlern, Kritikern und Kennern“ getanzt, die „einstimmig ihr Auftreten als erklärte Sensation“ bezeichneten. Man sieht in ihrem Solo „einen Puppentanz, der wohl das Vollendetste an Mimik und Technik darstellt“, ist aber auch überzeugt: „Mit ihr tanzt das große Problem Russland vorbei, der zügellose Osten.“ Am 10. September nimmt sie im Sophiensaal an einer russischen Konzertakademie zugunsten der Hungernden in Russland teil. Mitte September verlässt Nijinska Wien, dieser Zeitpunkt ist als Beginn ihrer Weltkarriere zu betrachten.

Zu berichten bleibt, dass Nijinskas erster Ehemann, der aus Moskau stammende Ballets-Russes-Tänzer Alexander Kotschetowski seit November 1920 – also schon vor Nijinskas Wien-Aufenthalt – an der Wiener Staatsoper als Gasttänzer engagiert war. Dabei kam es zu einer höchst bemerkenswerten Begebenheit. Er tanzte die Soli „Haidarma“, ein krimtatarischer Tanz (M: Alexander Spendiaroff), und „Trepak“ (M: Anton Rubinstein), die aus dem Repertoire des Ehepaars stammen, als Einlagen in Josef Hassreiters Pantomimischem Divertissement „Atelier Brüder Japonet“. Im Februar 1921 verkörperte er den „Neger Masud“ in der Premiere von Nicola Guerras Einstudierung von „Scheherazade“, die für eine Spanien-Tournee des Staatsopernballetts vorgenommen wurde. Außerdem war im Dezember 1920 im Konzerthaus ein gemeinsam von Kotschetowski und der Nijinski-Schülerin Annie Lieser bestrittener Tanzabend angekündigt. 

 

24 BronislawaPS

Trotz Nijinskas hohem Ansehen waren ihre Ballette nur sporadisch an der Wiener Staatsoper zu sehen und dies hauptsächlich durch Gastspiele. Den Anfang machten 1927 Diaghilews Ballets Russes mit einem der Hauptwerke Nijinskas, „Les Biches“ (M: Francis Poulenc), und einer Neufassung der „Polowetzer Tänze“ von Michail Fokin (M: Alexander Borodin), deren erster Teil nun in der Choreografie von Nijinska aufgeführt wurde. 1929 präsentierte das Ballett Ida Rubinstein vier Werke seiner Chefchoreografin Nijinska: neben „Princess Cygne“ (M: Nikolai Rimski-Korsakow) und „Nocturne“ (M: Borodin) zwei zu Grundpfeilern des internationalen Repertoires gewordene Werke, „Boléro“ und „La Valse (M: Maurice Ravel). Nijinskas Intermezzo als Ballettmeisterin der Wiener Staatsoper 1930 beschränkte sich auf die Choreografie der Tänze in Jaromir Weinbergers Oper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ (unter den Solisten: Toni Birkmeyer und Willy Fränzl). Erst mehr als dreißig Jahre später – durch ein Gastspiel des Grand Ballet du Marquis de Cuevas 1962 – war wieder eine Arbeit Nijinskas im Haus am Ring zu sehen. Es handelte sich um eine „Dornröschen“-Produktion, die Nijinska „nach Marius Petipa“ erstellt hatte, von der sie sich aber kurz vor der Premiere der Ausstattung wegen distanziert hatte. 25 Bronislawa

Zu Lebzeiten Nijinskas eines ihrer Ballette zu tanzen, war dem Ballett der Wiener Staatsoper nicht beschieden. Eine für die Saison 1971/72 von Ballettdirektor Aurel von Milloss geplante Einstudierung von „Les Biches“ kam wegen des Todes der Choreografin im Februar 1972 nicht zustande. So blieb es Ballettdirektor Gerhard Brunner vorbehalten, 1988 mit „Les Noces“ die erste Aufführung eines Nijinska-Balletts durch das Ballett des Hauses bewerkstelligt zu haben. Die Einstudierung besorgte Gayle Young, als künstlerische Beraterin fungierte Irina Nijinska-Raetz, die Tochter der Choreografin. Die Hauptrollen tanzten Erika Nowak und Wolfgang Grascher.

26 Bronislawa 

 

Fußnoten: 

[1] 1991 erschien im Georg Olms Verlag, Hildesheim/Zürich/New York, ein Reprint des „Schrifttanzes“ mit einem Nachwort von Gunhild Oberzaucher-Schüller. Das in der Aprilnummer 1930 veröffentlichte Thesenpapier von Bronislawa Nijinska wurde vermutlich von Georg(e) Kirsta übersetzt, der einige Cover, dazu Zeichnungen und auch Artikel für die Zeitschrift geschaffen hat. Zu Kirsta siehe: „Wiener Tanzgeschichten“, 2. Juni 2022.

[2] Als Tänzerin aus dem Ballett des Mariinski-Theaters (1908–11) und Diaghilews Ballets Russes (1909–14) hervorgegangen, war Nijinska 1915–17 Erste Tänzerin und Choreografin der Kiewer Oper, ihr Ehemann Alexander Kotschetowski fungierte als Ballettmeister. Nach einem längeren Aufenthalt in Moskau kehrte Nijinska zurück nach Kiew, wo sie im Februar 1919 ihre eigene Schule eröffnete, zeitweilig aber auch wieder an der Oper tätig war und dort auch Vorstellungen mit den Studierenden ihrer Schule gab.

[3] Siehe dazu: Claudia Jeschke, „Les Noces – Repetition : Variation : Transformation. Bronislawa Nijinska als Choreo-Graphin“, in: Thomas Hochradner (Hg.), „Zur Ästhetik des Vorläufigen“, Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2014, S. 105–117.

[4] Jeschke, S. 105. 

[5] Exter ist 1924 emigriert, also drei Jahre später als Nijinska. Im Jahr darauf kam es zur Zusammenarbeit an sechs Balletten, die von Nijinskas eigenem Ensemble auf einer England-Tournee aufgeführt wurden. Doch schon 1924 ereignete sich in Wien eine imaginäre Wiederbegegnung der beiden Künstlerinnen bei der von Friedrich Kiesler im Konzerthaus organisierten „Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik“. In der Abteilung „Die neue russische Bühne“ waren Szenenmodell und Figurinen von Exter für „Salome“ (1917, Tairows Moskauer Kammertheater) ausgestellt, Nijinska war vertreten durch Szenenbilder und Figurinen von Marie Laurencin für „Les Biches“ und Georges Braque für „Les Fâcheux“ (1924, Diaghilews Ballets Russes).

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